Landesgartenschau 2027 als Entwicklungstreiber für verbesserte Alltagsmobilität
Wetteraukreis. Die Mobilität im ländlichen Raum bekommt einen Plan: Die Steuerungsgruppe „Mobiles Oberhessen“ hat einen Strukturentwicklungsplan namens MOVIN‘ erarbeitet. Er überträgt aktuelle Forschungen zur Zukunft der Mobilität im ländlichen Raum auf die Region der ersten interkommunalen Landesgartenschau in Hessen 2027. Jetzt liegen erste Ergebnisse vor, um konkrete Maßnahmen anzustoßen. Der Steuerungsgruppe „Mobiles Oberhessen“ unter Leitung der Wirtschaftsförderung Wetterau gehören unter anderem Fachleute aus dem Nahverkehr, den Kommunen, dem Landkreis und Landesbehörden an. In Zusammenarbeit mit weiteren Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland hat die Gruppe einen Strukturentwicklungsplan erarbeitet: „Mobiles Oberhessen – vernetzt, innovativ, nachhaltig“ oder kurz MOVIN`. Nun geht es an die Konkretisierung und Umsetzung. Als erstes ist eine Mobilitätsanalyse durchgeführt worden, finanziert vom Verein Oberhessen und vom Zweckverband Oberhessische Versorgungsbetriebe (ZOV).
Bedarfsgerechte Analyse
Wie sehen die Verkehrsströme in Oberhessen aus, und wie kann das Mobilitätsangebot verbessert werden? Die Mitglieder der Steuerungsgruppe waren sich einig: Um diese Fragen zu beantworten, muss eine datenbasierte Grundlage her. Die ioki GmbH, spezialisiert auf Verkehrsanalysen und die Entwicklung neuer Mobilitätsformen im ländlichen Raum, hat diese Analysen in den vergangenen Monaten durchgeführt.
Nach einer Simulation von über 300.000 Bewegungsmustern in der Region von Echzell über Schotten bis nach Büdingen zeigen die Daten: Nur 7% der Wege werden derzeit im öffentlichen Verkehr zurückgelegt. Das liegt hauptsächlich an der langen Reisezeit, die oft selbst für kürzere Strecken nötig ist. Der Grund ist ein altbekanntes Problem im öffentlichen Verkehr ländlicher Räume: Je schwächer die Auslastung, desto niedriger die Rentabilität, desto schlechter das Angebot, desto schwächer die Auslastung – ein Teufelskreis. Kein Wunder, dass mit 61% ein Großteil der Wege mit dem Pkw bestritten wird, denn es gibt keine konkurrenzfähigen und bedarfsgerechten Alternativen. Der Anteil des Radverkehrs an der Gesamtfortbewegung liegt bei 7%.
Stärkung der ÖPNV-Hauptachsen
Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Auswertungen, nimmt der Strukturentwicklungsplan MOVIN` nun mehrere Maßnahmen in den Blick, um das Mobilitätsangebot in Oberhessen bedarfsgerecht zu verbessern. Zunächst soll auf Hauptachsen in der Region die Taktung deutlich ausgeweitet werden. Die Analyse zeigt diese Achsen auf, die häufig mit dem Schienennetz korrespondieren und damit auch die überregionale Anbindungsfunktion erfüllen. Hervorzuheben sind hier beispielsweise die Busverkehrsachsen Nidda-Schotten und Glauburg-Gedern. Durch die höhere Frequenz und die damit verkürzten Wartezeiten soll die Nutzung dieser Verbindungen deutlich attraktiver werden.
Shuttles nach Bedarf
Da der ländliche Raum aber weitläufig ist, wird ein Großteil der Dörfer von diesen Hauptachsen gar nicht berührt. Die Nebenverkehre zeigen sich als zu starr und unflexibel. Wer möchte sich mit seinen Fahrtwünschen nur auf den alle zwei Stunden fahrenden Bus beschränken.
Diese Zu- und Abbringerverkehre aus den Seitentälern sollen von einem flexiblen ÖPNV-Angebot auf Abruf, dem sogenannten On-Demand-Verkehr, abgelöst werden und den Hauptachsen zuführen. Diese können nach Bedarf angefordert werden, während im Hintergrund digital ein „Ridepooling“ stattfindet. Das bedeutet: Menschen in der Nähe, die zum gleichen Zeitpunkt in die gleiche Richtung möchten, werden im selben Fahrzeug befördert.
Die Verkehrsplaner aus dem Mobility Analytics & Consulting Team von ioki haben mehrere On-Demand-Gebiete identifiziert, die verkehrlich und räumlich sinnvoll als Einheit gedacht werden können. Dadurch könnte fast die gesamte Region Oberhessen abgedeckt werden. Für die zwei Bediengebiete Nidda und Schotten, inklusive aller Orts¬teile, ist im Rahmen der Analyse bereits eine detaillierte Betriebssimulation erarbeitet worden – Ergebnisse, die auf die gesamte Region übertragbar sind. Für ein umfassendes Bild werden die Datenauswertungen mit lokaler Expertise ergänzt. Denn besonders bei der detaillierten Ausgestaltung der On-Demand-Gebiete muss hier noch die örtliche Kenntnis zu Rate gezogen werden.
Autonomes Fahren
Das Teuerste an einem On-Demand-Angebot ist die Person, die das Fahrzeug bewegt. Insofern Raum könnte hier das autonome Fahren (Level 4) ein großes Einsparpotenzial schaffen. Ein Ansatz, der in Teilen Deutschlands schon erprobt und bei MOVIN` mitgedacht wird: Eine Person überwacht zentral mehrere Fahrzeuge und kann notfalls per Fernsteuerung eingreifen.
„Was bei der Anpassung der Buslinienverkehre auf den Nebenlinien eingespart wird, kann langfristig in On-Demand-Angebote investiert werden“, sagt Stefan Klöppel, Leiter des Verkehrsbereichs beim ZOV. Dennoch ist klar: ÖPNV – vor allem im ländlichen Raum – ist kein kostendeckendes Angebot. Ein On-Demand-Service kann die öffentliche Mobilitätsdienstleistung dort wesentlich verbessern und somit durchaus konkurrenzfähig zum motorisierten Individualverkehr werden. Voraussetzung ist jedoch, eine verlässliche und effiziente Lösung für die Leistungserbringung und vor allem für die Finanzierung.
Antrag auf Förderprogramm des Bundes
Zusammengefasst beschreibt der Plan MOVIN` ein modellhaftes Vorgehen zur zukunftsorientierten Entwicklung der Alltagsmobilität in Oberhessen. Zum einen als eigenes Thema der LGS 2027, zum anderen aber auch langfristig, um die Lebensqualität der Menschen in der Region zu verbessern. Die Mobilitätsanalyse liefert dazu erste datenbasierte Grundlagen zur Umsetzung von konkreten Maßnahmen.
Klar ist: Ohne eine Anschubfinanzierung im Rahmen einer Förderung dürfte es schwer werden, die Angebote einzurichten und zu betreiben. Mit einem Großteil der geplanten Maßnahmen hat sich die Steuerungsgruppe daher für das Förderprogramm „Modellprojekte zur Stärkung des ÖPNV“ des Bundesverkehrsministeriums beworben. Es geht um eine Gesamtinvestition von ca. 16 Millionen Euro, die zu 80% vom Bund gefördert werden könnte. Das Land Hessen hat die Bewerbung mit einem ausführlichen Schreiben unterstützt und sieht in dem beispielgebenden Entwicklungsplan viel Potenzial mit Modellcharakter auch für andere ländliche Regionen in Hessen. Von rund 70 interessierten Regionen Deutschlandweit ist es uns dieses Mal gelungen, auf einen vordersten Nachrückerplatz aufgenommen zu werden“ berichtete Bernd-Uwe Domes, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Wetterau. Bis Mitte Dezember ist mit der finalen Entscheidung zu rechnen, ob für die Region noch Chancen auf eine Förderung aus diesem Programm bestehen. Alternativ soll das Programm voraussichtlich im nächsten Jahr erneut aufgelegt werden. Ein Gespräch mit dem Fördermittelgeber bestätigt: Nur noch Nuancen trennen den regionalen Antrag im umkämpften Wettbewerb jetzt von einer Aufnahme.
Doch auch Alternativen werden geprüft. „Das Thema erreicht zunehmend Bedeutung. Regelmäßig erscheinen neue Förderprogramme, beispielsweise für kommunale Mobilitätsstationen“, erläutert Domes. Stefan Klöppel vom ZOV ergänzt: „Ende 2024 laufen die bestehenden Förderungen des Landes Hessen zum On-Demand-Verkehr aus. Ab 2025 ist daher voraussichtlich mit neuen Förderprogrammen für diese Angebote zu rechnen.“ So oder so herrscht bei allen Beteiligten Einigkeit darüber, dass man weiter an der Umsetzung des Strukturentwicklungsplanes arbeiten wird. „Die zukünftige Mobilitätsversorgung ist ein wesentlicher Faktor, damit gerade die ländlichen Räume und ihre Gemeinden für Menschen und Unternehmen attraktiv bleiben“, so Domes.
INFO: Netz von Mobilitätsstationen
Im Strukturentwicklungsplan MOVIN‘ ist auch der Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Mobilitätsstationen vorgesehen, in Verbindung mit jeweils bedarfsgerechten Car- und Bikesharing-Angeboten. Diese dienen als Knotenpunkte, bieten erleichterte Umstiegsmöglichkeiten und eröffnen damit eine vernetzte Mobilität.
Die Analyse von ioki hat dazu 12 Standorte in den Blick genommen. Als Ergebnis hat nun jede oberhessische Kommune einen Steckbrief zu ihrer Mobilitätsstation – Schotten mit dem Hoherodskopf sogar zwei – in der Hand. Mit einer datenbasierten Grundlage und abgestimmt auf die Erkenntnisse der lokalen Expertise durch die Befragung der einzelnen Kommunen und die Ergebnisse aus dem „RaMo“-Forschungsprojekt („Raum für neue Mobilität“) des Regionalverbands Frankfurt Rhein-Main, der Hochschule RheinMain und dem RMV, bei dem der Wetteraukreis flächendeckend als Pilotkreis fungiert.